Freizeitmobilität - ohne Auto?

(aus 'Münchner Stadtgespräche Nr.11 / Mai 1999', die Zeitschrift des Umweltinstitut München e.V.)

"Da hat man nun ein so unkultivierbares Zuhause, und dann fehlt einem auch noch das Auto, um es verlassen zu können."

Freizeitmobilität nimmt zu. Bereits heute werden ca. 40% aller Wege und 50% aller Personenkilometer in der Freizeit zurückgelegt.

FUHRER/ KAISER untersuchten die Hintergründe der Freizeitmobilität am Beispiel der Stadt Bern (Schweiz) und fanden heraus, daß die Ursachen der zunehmenden Freizeitmobilität in der ”Unkultivierbarkeit” des Zuhauses liegen. Die erhöhte Mobilität in der Freizeit ist also Folge eines Wohnproblems.

Erfahrungen sind "verortet". Durch das, was wir an einem bestimmten Ort tun, erfahren, erleben, binden wir uns emotional an diesen Ort. Dadurch werden Wohnungen zu Trägern von Identität. Wem es aber versagt ist, entsprechende Erfahrungen in seiner eigenen Wohnung oder seinem nächsten Wohnumfeld zu machen, der wird mobil werden (müssen). Wohnen kann damit als multilokale Wohntätigkeit betrachtet werden. Die Anzahl der Orte variiert und ist abhängig von der emotionalen Valenz des Zuhauses und der Verbundenheit mit ihm. Während ein multivalentes Zuhause in der Lage ist mehrere emotionale Bedürfnisse abzudecken, ist ein univalentes Zuhause nur zum Abdecken eines emotionalen Bedürfnisses fähig. Je größer die emotionale Valenz und je größer die Verbundenheit, desto weniger Orte werden aufgesucht. Freizeitmobilität entsteht also u.a. aus dem Bestreben heraus, die Defizite des eigenen Zuhauses auszugleichen.

Freizeitverkehr nimmt zu und hat in seiner automobilen Form - wie jeder weiß, der am Wochenende versucht morgens raus aus der bzw. abends rein in die Stadt zu kommen - die Grenze des Erträglichen erreicht. Den Prognosen der Verkehrswissenschaftler zufolge wird der Freizeitverkehr dennoch weiter zunehmen. Sich diesem Trend durch restriktive Maßnahmen entgegen zu stellen, scheint aussichtslos. Sinnvoller ist es Maßnahmen zu fördern, die den Freizeitverkehr reduzieren können, bzw. seine Auswirkungen verringern. Entsprechend dem Ansatz von FUHRER und KAISER bedeutet das, eine Rekultivierung des Zuhauses und des direkten Wohnumfeldes einzuleiten. Wer gern daheim ist, wessen Bedürfnisse nach Ruhe, Sonne, sozialen Kontakten, Bewegung, Action etc. im Nahbereich seiner Wohnung abgedeckt werden können, für den besteht kein Anlaß mehr (weit) weg zu fahren. Eine Renaissance öffentlicher Räume als Identifikations- und Sozialräume ist angesagt, mit einer Stadtplanung, die den Bedürfnissen ihrer Bürger Rechnung trägt.

Von der anderen Seite her gilt es, die negativen Auswirkungen des Freizeitverkehrs zu minimieren. Ein Ansatzpunkt hierfür ist die autofreie Freizeitmobilität.

In den Großstädten der Bundesrepublik Deutschland leben bereits heute ca. 40% der Haushalte ohne (eigenes) Auto, eine gesellschaftliche Realität, die in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird. Jemand, der (ohne Not) auf sein Auto verzichten will, ist eine Provokation für alle Autofahrer. Das Auto steht für Wohlstand, Freiheit, Mobilität. Autofreie stellen durch ihren bewußten Autoverzicht dieses Paradigma in Frage und hinterfragen damit die allgemein akzeptierten Werte. Dabei sind Autofreie nicht einmal eingeschränkt mobil. Seit Erfindung des Automobils hat sich die Zahl der Wege nicht erhöht, sondern lediglich die zurückgelegten Distanzen. Es ist also unrichtig zu sagen, die Mobilität habe mit der Benutzung des PKWs zugenommen; wir unternehmen nicht mehr, als vorher, können es aber in größerer Entfernung tun. Da autofreie Freizeitmobilität hauptsächlich im Nahbereich stattfindet, wirkt dieses Mobilitätsverhalten direkt verkehrsreduzierend.

Die "Auto-Diät"

Um dem Autofreien Leben auf die Spur zu kommen, unternahmen BURWITZ/KOCH/KRÄMER-BADONI Anfang der 90er Jahre in Bremen einen viel beachteten Versuch. Sie verordneten 7 freiwilligen Haushalten eine ”Auto-Diät”, in Form einer vierwöchigen Nulldiät sozusagen. Während dieser Zeit wurden von allen 12 Teilnehmern Tagebücher über ihre zurückgelegten Wege, sowie die dabei gesammelten Erfahrungen geführt. Ein wesentliches Ergebnis der Untersuchung war die Erkenntnis, daß eine Betrachtung des autofreien Lebensstils als defizitär der Wirklichkeit nicht gerecht wird. Autofreie Mobilität, und damit auch autofreie Freizeitmobilität als Teilbereich, hat eine eigene Erlebnisqualität und kann mit der (gewohnten?) automobilen Fortbewegung nicht direkt verglichen werden. Nur unter dem Primat von Distanz und Geschwindigkeit bleibt die automobile Fortbewegung der autofreien objektiv überlegen. Bedingt durch Staus und langwierige Parkplatzsuchen häufig nicht einmal mehr hier. Bei der autofreien Fortbewegung, dem Zufußgehen, dem Radfahren und dem Gefahrenwerden mit öffentlichen Verkehrsmitteln, entstehen spezifische sinnliche Wahrnehmungen, die größtenteils als Gewinn an Lebensqualität erlebt werden. Sie erstrecken sich über Dimensionen des Raumerlebens, des Körpererlebens, des Kommunikationserlebens sowie des Zeiterlebens (REUTTER &REUTTER).

Der folgende Tagebucheintrag eines Versuchsteilnehmers belegt, welche Umbewertung die Autolosigkeit dabei erfahren kann: ”Eigentlich war´s ganz schön den Regen - geschützt im Gartenhaus - zu beobachten und einfach abzuwarten, bis er nachläßt, statt im Auto nach Hause flüchten zu können. Wahrscheinlich hätten wir sonst im strömenden Regen - notgedrungen hektisch - eingepackt. So lief eben alles ganz ruhig ab. In der Zeit des Wartens entstanden keine Gefühle der Rastlosigkeit oder Unruhe, sondern eher eine Situation der Beschaulichkeit und Stille (vgl. BURWITZ et al.).

Wie beeindruckend und positiv die Erfahrungen ihrer autofreien Zeit waren läßt sich eindrucksvoll dadurch belegen, daß fünf der sieben teilnehmenden Haushalte und zwei der drei Forscherhaushalte im Anschluß an das Experiment ihr Auto abgeschafft haben.

 


Weiterführende Literatur:

BURWITZ,H./KOCH, H./KRÄMER-BADONI, T.: Leben ohne Auto. Neue Perspektiven für eine menschliche Stadt. Hamburg 1992.

FUHRER, U./KAISER, F.: Freizeitmobilität als Flucht vor der Unkultivierbarkeit des Zuhauses. In: Zeitschrift für angewandte Umweltforschung, Jg. 10 (1997), H.3, S.303 - 307

REUTTER, O. und REUTTER U.: Autofreies Leben in der Stadt. Dortmund 1996

 


Lydia Wagner

Wohnen ohne Auto

(veröffentlicht in: Münchner Stadtgespräche, Nr.11/Mai 1999, herausgegeben vom Umweltinstitut München e.V.)

 

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